Offener Brief des Auschwitzkomitees an die deutsche Regierung
An:
Herrn Bundespräsident Christian Wulff
Spreeweg 1
10557 Berlin
Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Straße 1
10557 Berlin
Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Glinkastraße 24
10117 Berlin
Herrn Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
Bundesministerium des Innern
Alt-Moabit 101 D
10559 Berlin
Herrn Bundestagspräsident Norbert Lammert
sowie an alle Fraktionen im deutschen Bundestag, Berlin
Hamburg, 15. Dezember 2011
Offener Brief des Auschwitz-Komitees an die Regierenden
Wir, die letzten Zeugen des faschistischen Terrors, rufen auf: [...] Aus der Erfahrung unseres Lebens sagen wir: Nie mehr schweigen, wegsehen, wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten! Erinnern heißt handeln!
(Esther Bejarano, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees)
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Damen und Herren,
in großer Sorge wenden wir uns heute an Sie. Antisemitische, rassistische und neofaschistische Ideologie und Praxis finden Akzeptanz bis in die Mitte der Gesellschaft. Sie, die Regierenden, tragen Mitverantwortung an den "deutschen Zuständen" heute, an der Ökonomisierung des Denkens, an der Entsolidarisierung der Gesellschaft, und, daraus folgend, an der sozialen Spaltung, die Ängste schürt. Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben heute wieder Konjunktur in Deutschland.
- In Zeiten, in denen hierzulande mindestens zehn Menschen von einer rechten Terrorbande erordet wurden, weil sie türkische und griechische Namen trugen und mindestens 13 Jahre lang der "nationalsozialistische Untergrund"/NSU unter den offensichtlich rechts zugedrückten Augen der Polizei, Justiz und des Verfassungsschutzes wütete,
- in Zeiten, da 182 Tote durch Gewalt von Nazis und Neonazis in den vergangenen 20 Jahren von den Regierenden scheinbar übersehen wurden, obwohl doch Ausstellungen wie „Opfer rechter Gewalt“ seit Jahren vielerorts gezeigt wurden, einschlägige Websites und Foren mit unendlicher Mühe von NGOs, Bürgerinitiativen und Opferverbänden ganz öffentlich zugänglich waren und sind,
- in Zeiten, in denen selbst im Winter Menschen schon wieder nachts aus dem Schlaf gerissen und abgeschoben werden, Bürgerkriegsflüchtlinge, Roma, Familien mit Kindern, Alte und Kranke in elende Zustände gewaltsam verbracht werden, obwohl auch Überlebende des Holocaust, die im Exil Zuflucht fanden, immer wieder das Bleiberecht anmahnen,
- in Zeiten, in denen ungeachtet zahlreicher Proteste, trotz Mahnungen von Überlebendenorganisationen, von den Zentralräten der Juden und der Muslime, von WissenschaftlerInnen die Fachministerin beratungsresistent bleibt. Fremdschämen müssen wir uns für die Ministerin Schröder, die mit ihrer so genannten "Extremismusklausel" Überlebendenorganisationen und seit Jahrzehnten ehrenamtlich arbeitende Initiativen gegen rechts mit dem Generalverdacht überzieht, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Bespitzelung und Verdächtigung statt Aufklärung und Anerkennung, Geld nur gegen Gesinnungsschnüffelei – wie groß wird der Scherbenhaufen sein, den das Ministerium hinterlässt?,
- in Zeiten, in denen schon wieder obrigkeitsstaatliches Denken Konjunktur hat, durch das Befolgen von Befehlen und Anordnungen selbst bei Frosttemperaturen mit Wasserwerfern auf Menschen geschossen wird, die in friedlichen Blockaden sich mutig auf die Straßen der Städte setzen, um marschierende Neonazis zu stoppen. Gegen die Tränengas in gesundheitsgefährdenden Mengen eingesetzt wird. Der Vertrauensverlust in demokratische Zustände ist kaum zu ermessen, wenn Demonstranten weggespritzt und anderweitig traktiert werden, Menschen bespitzelt, überwacht und ausgehorcht werden, Mobilfunkdaten missbraucht werden, Immunitäten von Abgeordneten aufgehoben werden,
- in Zeiten, in denen selbst ein Shoa-Überlebender wie Ernst Grube, VVN-BdA-Vorsitzender in Bayern, vom Nachrichtendienst überwacht und als Zeitzeuge diskreditiert wird,
- in Zeiten, in denen die NPD und neofaschistische Kameradschaften ganze Regionen zu "national-befreiten Zonen" erklären und die NPD immer noch nicht verboten ist
mischen wir uns ein und fordern Sie auf: Handeln Sie, jetzt!
Sieben Sofortmaßnahmen schlagen wir Ihnen vor:
- Schluss mit der öffentlichen Subventionierung neofaschistischer Organisationen durch V-Leute, wir fordern gründliche und parlamentsöffentliche Aufklärung der Morde selbst sowie der Verfehlungen und Verstrickungen des Verfassungsschutzes und der Polizei in die Morde des „nationalsozialistischen Untergrunds“ und ähnlicher Geheimbünde
- Schluss mit der Un-Kultur des Verdachts und der Gleichsetzung "Rot gleich Braun", wir fordern gründliche und öffentliche Aufarbeitung aller Todesfälle durch rechte Gewalt in den vergangenen 20 Jahren
- Schluss mit den Abschiebungen, Bleiberecht für alle, insbesondere für Rom und Sinti
- Schluss mit den Verdächtigungen staatlich nicht kontrollierter Projekte und Initiativen gegen rechts!
- Schluss mit der Gewalt gegen Menschen, die ihren eigenen Körper in friedlichen Sitzblockaden gegen Neonaziaufmärsche einsetzen, die großen Mut beweisen und unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft sind. Schluss mit der Kriminalisierung und Überwachung
- Schluss mit der Überwachung von Überlebenden des Holocaust, die Diskreditierung ihrer Zeitzeugenarbeit wie z.B. bei Ernst Grube in Bayern muss sofort beendet werden
Und Sie, Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel und die Bundesregierung fordern wir wiederum auf: Verbieten Sie endlich nach Artikel 139 Grundgesetz und entsprechend dem Potsdamer Abkommen die NPD und alle faschistischen Nachfolgeorganisationen, ihre Schriften, ihre Embleme, ihre Aktivitäten! Das sind wir den Millionen Opfern der faschistischen Verbrechen schuldig.
Bitte unterrichten Sie uns über Ihre Maßnahmen.
Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano, Vorsitzende
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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Vorsitzende: Esther Bejarano
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